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iedereen - “Neue Mitte” - VÖ 17.10.25

geschrieben von Ingo Neumaier

 

Ihr Debütalbum, das iedereen 2024 veröffentlicht haben, war einer dieser typischen „Hallo, hier sind wir!“-Momente, bei dem vor allem die Frage für Spannung sorgte, wie viele Ausrufezeichen man letztendlich an diesen Satz heften musste. Denn dass das laute Kölner Duo, bestehend aus Tom Sinke (Gitarre, Gesang) und Ron Huefnagels (Drums), Aufsehen in der deutschen Indiepopkrachrock-Blase erregen würde, war wohl jedem klar, der sich von Songs wie „GKO“, „Chauvi“ oder „Niki“ einmal ordentlich durchföhnen ließ. Aber wie viel Aufmerksamkeit würde man ihnen am Ende schenken? Und wie lange würde diese anhalten? Nach ein paar Dutzend Auftritten, alleine oder als Supportband, auf etablierten Festivals und in engagierten Jugendzentren, die allesamt mehr als überzeugend gerieten, kann man sagen: iedereen haben den Fuß in der Tür.

 

Nun kommt also Album Nummer zwei, und mit ihm stellt sich die Frage: Wie geht es weiter mit Ron und Tom und der Tür? Überraschend Anlauf nehmen und das Scheißding mit Geschrei eintreten? Schulter ansetzen, Kraft sammeln und langsam, aber unweigerlich aufdrücken? Den offenen Spalt nutzen und etwas Fieses reinwerfen, tollwütige Ratten etwa, giftiges Gas oder Fotos von Elon Musks verkackter Botoxfresse? Oder ist dieses Denken, dass man das Erreichte bestätigen oder sogar übertreffen muss, nicht ohnehin ein dummer, unnützer und vielleicht sogar gefährlicher Reflex, den uns das Katastrophensystem Kapitalismus seit jeher einbläut?

 

Über all das haben sich iedereen bestimmt den ein oder anderen Gedanken gemacht, nur um am Ende bei ein paar Gegenfragen auf einer existenzielleren Ebene zu landen: Was wollen wir eigentlich sagen? Wer will das hören? Und wie geht das, in einer Band zu sein, wenn man gleichzeitig auch ein ganz normales (um nicht zu sagen: bürgerliches) Leben führt? Am Anfang waren iedereen nicht mehr (und aber auch nicht weniger) als zwei Freunde, die zusammen Musik machten. Frei von Erwartungen, frei von Druck, frei vom Gefühl, etwas liefern zu müssen. Das ist nun ein bisschen anders, und davon handelt diese Platte. 

 

Es sind der Zweifel und die Verzweiflung, nicht die Gewissheit und das Gewissen, die hier das Heft in die Hand nehmen. Kann man im Jahr 2025 ein Album mit einem beschleunigten Keith Richards-Gedächtnisriff eröffnen (siehe „Rewe“) und dabei gleichzeitig stilvollen 90er-Ikonen wie Jon Spencer Referenz erweisen? Ist es wirklich wieder erlaubt, trötende Saxophone zu verwenden (siehe „Klosterfrau Melissengeist“) , die irgendwo zwischen Bowie-Glam und X-Ray-Spex-Nihilismus pendeln? Und was ist eigentlich mit "Zehntausend Mal“ und seinem Intro, das erst an die Prinzen und dann an die Beach Boys denken lässt? Ob das alles klar geht, ist dann doch irgendwie hippen Noisepop-Kontext ist eine Frage, die Ron und Tom mit einem lauten „Uns doch scheißegal“ beantworten. 

 

iedereen lassen sich auf ihrem neuen Album gehen. Sie gehen weiter als noch zuvor und schauen, was denn so mit der Musik und der Kunst und den Einflüssen und was man so alles verarbeiten kann und muss, wenn man heute Rock im weitesten Sinne spielt. Zum Eckigen des Debüts kommt immer öfter auch das Runde, zum Hektischen die Harmonie, und iedereen kriegen jetzt gerne mal die Kurve zum Eingängigen. Zeigte die Band auf dem Debütalbum noch vor allem das, was sie kann, geht es jetzt mehr um das, was sie könnte.

 

Zum Beispiel in „Neue Mitte“, dem Titelsong des Albums, wo die beiden in bester Tocotronic-Manier das Ding mit der Jugendbewegung durchspielen. Denn ist es ja im Grunde ganz egal, ob man in Freiburg oder in Oberhausen alleine sein will und seinen Selbsthass füttert, der nicht nur der eigenen Person, sondern seiner ganzen Generation gilt. Dieses Gefühl verpacken iedereen in eine höchst mitreißende Hymne, die zumindest live das Allein- und Verlorensein elegant konterkarieren dürfte. Hier kann man mitsingen, Fäuste recken und eine verschwitzte Gemeinschaft heraufbeschwören: Wir schreien, wir feiern, wir wissen nicht warum. 

 

Ein Gefühl, das sich auch bei „Panik“ einstellt: Es ist immer wieder schön zu sehen, dass Ton Steine Scherben wirklich jede neue Generation von Musikern in Deutschland packt, anspricht und zur Auseinandersetzung treibt. „Der Traum ist aus und mir fällt nix mehr ein“ heißt es dort. Ersteres mag stimmen, aber das zweite ist ein wenig kokett. Denn auf der einen Seite den Infight mit „Christen, Männer und Faschisten“ suchen und das Land in Flammen sehen wollen, und das Ganze andererseits in ein Happy-go-lucky-Upbeat-Arrangement packen, bei dem gesanglich genau die halbe Stunde in der deutschen Rockgeschichte heraufbeschworen wird, in der Marius Müller-Westernhagen eine doch ganz coole Socke war, ist ein Kniff, auf den man erst einmal kommen muss. Eine Unterrichtsstunde in deutscher Musikgeschichte, die gerade mal zweieinhalb Minuten dauert.

 

Herausragend ist auch das kaum abzulehnende „Angebot“, bei dem iedereen einmal mehr auf Sinn- und Wahrheitssuche gehen. Die Strophen lassen den glorreichen 80er-New Wave á la Blondie aufleben, während der Refrain in Richtung Alternative Rock der Mittneunziger abbiegt. Ein Song, der einem ähnlich lange im Kopf herumspukt wie „Glaube nicht“, wenn auch mit anderen Mitteln. Denn bei diesem geht es eher melodiefern zur Sache, wird einem die verzweifelte iedereen-Ignoranz mit klassischen Noiserock-Motiven stumpf in die Flanke gehauen. 

 

„Alarm“ hingegen behandelt mit B-52s-Twang und luftig-treibendem Riff-Rock das Thema Sex, Porno und Überkonsum. Und die Slackerhymne „Geht’s nur gut?“ weist eine schöne Schlagseite Richtung Lemonheads auf und geht fast schon als Powerballade durch. „Wer hat noch Draht für einen Seiltanz?“ Eine sehr gute Frage einer sehr guten Band, die auf dieser Platte einfach ihrer Intuition folgt und macht, was ihr gerade in den Sinn kommt. 

 

Auf die Schwere folgt das Leichte, auf die Verzweiflung der Trotz, auf die Strophe manchmal der Refrain - und manchmal halt auch einfach das sinister grinsende Sprengkommando mit dem Dynamit unterm Arm. „Unsere Songs sind wie ein Kartenhaus: luftig, infantil, manchmal kurz vor dem Einsturz“, sagt Ron. Eine Beschreibung, die nicht nur für die Kunst, sondern für das Leben an sich gelten kann. 

 

Das alles schaffen iedereen, und zwar – man kann es nicht oft genug betonen – mit begrenzten Mitteln und dem ganz kleinen Besteck. Je weniger Musiker man zur Verfügung hat, desto mehr Ideen braucht man, und wer dieses Album hört, kann oft nur staunen über all die musikalischen Fährten, denen die Band mit Elan, mit Witz und mit Können folgt. iedereen, das muss man sich immer wieder vor Augen führen, sind wirklich nur zu zweit. Ein gottverdammtes Duo. Ron und Tom, das war‘s. Weniger geht nicht. Und mehr irgendwie auch nicht.